Hier stehe ich vor dem Büro von Andy Stanley. Wer Stanley nicht kennt: Er ist Hauptpastor der North Point Community Church in Atlanta, Georgia, die in den USA zu den ganz großen „megachurches“ zählt. Der Schnappschuss wurde während einer Studienreise 2018 aufgenommen. Wer Stanley schon mal live oder im Internet erlebt hat, weiß auch: Er ist ein richtig guter Prediger. Man denkt unwillkürlich: „Wow“ – welch ein Charisma!
Mein persönlicher Eindruck ist, dass der angelsächsische Raum viele ausgesprochen gute Prediger und Predigerinnen kennt. Ja, dass es hier durchaus sehr viel bessere Predigten als bei uns in Deutschland gibt. Es ist wie in der Pop-Musik: Die besten Titel kommen aus der Neuen Welt.
Wie ist dieses Phänomen bloß zu erklären? Walter Jens, der erste Inhaber des Lehrstuhls für Rhetorik an der Universität Tübingen, meinte einmal, die Rhetorik, also die Kunst der Rede, sei eine „Tochter der Republik“. Mit anderen Worten: Die gute Rede und die Reflexion über sie gedeiht vor allem in freien Gesellschaften. Denn hier muss man schließlich die Menschen mit Worten überzeugen und kann sie nicht mit Waffen zwingen. Anders in den Diktaturen: Hier gilt das Gesetz des Stärkeren. Parlamente und Debatten haben wenig Wert, da von oben nach unten hindurch regiert waren kann.
Nun ist ganz offensichtlich, dass der angelsächsische Raum mit dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten über eine sehr viel längere Zeit der neuzeitlichen Demokratie verfügt als wir in Deutschland. Parlamentarismus und politische Debatte haben dort schon früh den Grundstein für die hohe Kunst der Rede gelegt. Und das hat wahrscheinlich auch auf das Niveau der kirchlichen Rede abgefärbt. Hinzu kommt: In den Vereinigten Staaten galt sehr viel früher das Prinzip der religiösen Toleranz. Das bedeutete: Keine Konfession besaß eine Vormachtstellung, jede Kirche musste um ihre Mitglieder aktiv werben. Und in einer solchen Situation weiß man sehr genau um die Rolle der Predigt. Sie muss Resonanzen wecken, ansonsten ist sie wertlos. In Deutschland hingegen galt bis 1918 de jure das staatskirchliche Prinzip, das de facto noch über 50 Jahre länger andauerte. Aber nun ändern sich die Zeiten. Der freie religiöse Markt wird, so meine Einschätzung, die Voraussetzung für viele exzellente Predigten schaffen.
Zum Weiterlesen: Walter Jens, Von Deutscher Rede, München 1965.