Was Engels und Marx über Spurgeon dachten

Jenny Marx, die Tochter von Karl und Jenny Marx, besaß ein Poesiealbum. Wer durfte und wollte, konnte darin vorformulierte Fragen beantworten. Im April 1868 war dann auch Friedrich Engels dran. Als Unterstützer der Familie und Förderer der Marxschen Theorie war er oft zu Gast. Und so schrieb er in englischer Sprache das, was man nun in Poesiealben so eben schreibt: eine launige Mischung aus humorigen Gedanken mit zuweilen ernstem Unterton. Auf die Frage, was für ihn die Auffassung vom Glück sei („Idea of happiness“), antwortet Engels mit „Château Margaux 1848.“ Und als Inbegriff für Unglück („misery“) nennt er den Gang zum Zahnarzt („to go to a dentist“). „Prost“, denkt man – das ist doch eigentlich ganz witzig. Ein paar Fragen weiter nehmen die Statements allerdings an Schärfe zu. Als persönliche Abneigung („Your aversion”) führt er affektierte, hochnäsige Frauen an („affected stuck up women“). Und das Erkunden nach der Person, die er am allerwenigsten mag („The character you most dislike“), beantwortet er lapidar mit „Spurgeon“. 

Diese kurze Antwort ist leider oft übersehen worden. Von den Marxisten wurde sie überlesen, weil sie verständlicherweise Spurgeon nicht kannten. Und bei den Spurgeon-Biographen blieb sie unbeachtet, weil sie sich wiederum nicht für Engels interessierten. Und doch ist der Eintrag ein kleiner Glücksfall für die Predigtgeschichte. Denn sie erinnert an die große Anziehung, die der englische Prediger seinerzeit besaß. Auch wenn Engels und die Marxfamilie ihn wohl nie persönlich gehört haben, so sind sie ihm in ihren Londoner Jahren gesprächsweise sicher immer wieder begegnet. Denn während die beiden Köpfe des Kommunismus zur Revolution riefen, mussten sie die Erfahrung machen, dass viele Menschen lieber Gottesdienste besuchten. Doch die Leute besuchten nicht nur die Versammlungen im Metropolitan Tabernacle. Das viktorianische England verfügte über eine Vielzahl charismatischer Prediger und Predigerinnen wie Spurgeon.

Ein Brief vom reisenden Karl an seinen lieben „Fred“ vom 15. Juli 1874 unterstreicht den skizzierten Umstand. Dort hält er verwundert fest, dass in der Bibliothek seines Vermieters auch Predigten Spurgeons zu finden seien, obwohl dieser doch zur Church of England gehöre. Überhaupt, so Marx, könne man in England keinen Schritt tun, „ohne fromme Meetings angezeigt zu sehen“. Und er schließt – recht ernüchtert – seinen Eindruck: „In der Tat, der Plebs [!] ist hier sehr arm, und scheint in der Kirche seine Hauptzerstreuung zu suchen.“ Natürlich ließe sich manches zur Einschätzung von Marx sagen. Doch der springende Punkt ist ein anderer. Die Äußerungen von ihm und Engels erinnern an eine Zeit, in der die pietistische Predigt als öffentliche Stimme wahrgenommen wurde. Die englischen „Evangelicals“ des 19. Jahrhunderts brachten eine geistliche Rede hervor, die nicht auf kleine Konventikel beschränkt blieb, sondern Stadtgespräch wurde.

Zum Weiterlesen: Izumi Omura, Valerij Fomicev, Rolf Hecker und Shun-ichi Kubo (Hg.): Familie Marx privat. Die Foto- und Fragebogen-Alben von Marx‘ Töchtern Laura und Jenny Eine kommentierte Faksimile-Edition. Mit einem Essay von Iring Fetscher, Berlin 2005; August Bebel, Eduard Bernstein (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und Karl Marx. Band 4, Bremen 2012.

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